Rezension von Krassling (2005):
Gerd Tillmann kann nicht wirklich zu den bekanntesten Autoren des Schwarzen Auges gezählt werden. Seine Abenteuer gehören nicht gerade zu dem, was man Publikumslieblinge oder Bestseller nennen würde. Dennoch zeugen Veröffentlichungen unter seinem Namen wie Im Traumlabyrinth (1990) oder Ingerimms Schlund (1996) immer wieder von blühender Phantasie und beeindruckender Kreativität. Auch in seinem zweiten Abenteuer von 1992 - Die Stadt des toten Herrschers - stellte er wieder diese ihm eigenen Qualitäten unter Beweis.
Die Helden treten in den Sümpfen von Selem eine Reise in die Vergangenheit an, um dort die Ursache für einen plötzlichen Angriff der Echsenmenschen zu finden. Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, dass man so gut wie keine Bezüge zu diesem Abenteuer in irgendwelchen anderen Publikationen findet. Einzig die hier eingeführte Figur des Lichtelfen Athavar Friedenslied fand ihren Weg auch in andere Veröffentlichungen (siehe den G7-Sammelband Invasion der Verdammten oder den Roman Der Lichtvogel).
Wie es so seine Art ist, wirft Gerd Tillmann die Helden auch in diesem Abenteuer relativ unvermittelt ins Geschehen. Wir wollen uns hier nicht mit den hanbüchenen Vorschlägen aufhalten, wie und warum die Helden nach Chag, einem kleinen Dorf in der Nähe von Selem, reisen. Der Umstand, dass sie die Bewohner des Dorfes allesamt grausam niedergemetzelt auffinden und auffällige Spuren in die Sümpfe führen, soll den Helden Grund genug sein sich ebenfalls in die Sümpfe zu begeben.
Dort haben sie neben den unvermeidlichen Zufallsbegegnungen auch ein paar örtlich gebundene Treffen, von denen die mit dem verweichlichten Krieger Olbert von Hohnburg noch zu den amüsantesten gehört. Auch die leider einzige Begegnung mit einem Schlinger, die wohl das stimmungsvolle Coverbild von Ugurcan Yüce inspirierte, bleibt ohne Folgen. Warum Tillmann die Helden allerdings auf eine Waldelfe treffen lässt, die anbietet, die Helden zu begleiten, bleibt unklar. Zumal er sofort darauf verweist, welche Probleme das Mitführen dieser Meisterperson mit sich brächte.
Wie dem auch sei, schließlich erreichen die Helden eine halb im Sumpf versunkene Pyramide und machen sich gleich daran, diese zu erkunden.
Der größte Teil des Bandes besteht aus der Beschreibung der Pyramide einerseits und der des 4.000 Jahre in der Vergangenheit liegenden Echsenlagers andererseits. Da sich auf den nachfolgenden drei Seiten des Abenteuers keine allzu komplexe Handlung mehr ausbreiten lässt, müssen die Beschreibungen der Örtlichkeiten wohl auch die weitere Handlung beinhalten.
Die Helden gelangen durch einen Riss in der Pyramide mehr oder weniger direkt in die Grabkammern des alten Echsenherrschers. Doch dort finden sie nicht etwa die sterblichen Überreste dieses Herrschers vor - statt dessen erwartet sie ein wenig überraschter Waldelf. Dieser erklärt den Helden, dass der Ursprung allen Übels in der Vergangenheit liege, und er die Helden dort hinzuschicken gedenke, um ein altes Pergament zu übersetzen. Dann wird es für den Meister kompliziert.
Möglicherweise waren die Spieler jener Tage noch nicht so verwöhnt, als dass es mehr bedurft hätte, um sie in ein Abenteuer zu schicken. Dem heutigen Leser mag es jedoch äußerst anspruchsvoll erscheinen, die Spieler zu dieser Reise zu bewegen. Sagt der Autor doch selbst, dass sich der Elf jedes Wort aus der Nase ziehen lässt, und die Helden immer das Gefühl haben sollten, er habe das Wichtigste für sich behalten. Mit diesen wenigen Informationen und einer magischen Kugel bewaffnet, die den Helden die verbleibende Zeit bis zu ihrer Rückkehr anzeigen soll, werden sie also in die Vergangenheit geschickt. Der heutige Leser mag ein nostalgisches Schmunzeln unterdrücken, wenn er liest, dass dies durch eine freizauberische Variante des AXXELERATUS geschieht.
Kaum sind die Helden in der Vergangenheit angekommen, erwartet sie die erste Überraschung. Sämtliche Helden teilen sich für diesen Teil des Abenteuers nur einen Körper! Wenn man das nur vorher gewusst hätte ...
Die Beschreibungen der Pyramide gliedern sich in drei Teile. Die Räume werden zu drei verschiedenen Zeitpunkten beschrieben, da sich diese in unterschiedlichem Zustand befinden. Eigentlich eine gute Idee, aufgrund der vielen Räume und des für diese Zwecke wenig geeigneten Layouts, ist es jedoch nicht immer einfach, hier den Überblick zu behalten. Um Platz zu sparen, hat man auf Querverweise wie "siehe Raum 8" zurückgegriffen, doch gerade dies macht ein ständiges Blättern und Suchen erforderlich. An den Beschreibungen selbst ist nichts auszusetzen, manchmal ist jedoch die Anordnung der Räumlichkeiten nicht ganz nachvollziehbar. Die Helden können die Pyramide nun verlassen und treffen außerhalb auf ein gewaltiges Lager der Achaz.
Viertausend Jahre in der Vergangenheit befinden sich die Helden nun unmittelbar vor dem Abschluss der Bauarbeiten an der prächtigen Pyramide. Wieviel Zeit sie haben, um das geheimnisvolle Pergament zu enträtseln, ist ihnen nicht bekannt. Sie wissen nur, dass sie in die Grabkammer der Pyramide zurückkehren müssen, wenn das Licht der Kugel Zeitenruf erlischt. Damit ist dem Meister ein gutes Instrument an die Hand gegeben, jederzeit Druck auf die Spieler auszuüben und die Handlung voranzutreiben.
Gerd Tillmann stellt eine ausführliche Beschreibung des Lagers zur Verfügung. Hier scheinen sich viele Möglichkeiten zu ergeben, doch leider lässt sich das Potential dieses Ortes nicht nutzen, denn die Helden werden wohl kaum die Möglicheit haben, sich frei durchs Lager zu bewegen. Der Grund liegt zum einen an ihrer Mission und zum anderen an ihrer Person selbst. Der moderne Überheld fällt in dieser Vergangenheit selbst einem Echsenmenschen unweigerlich auf. So kann man sich also nur bei Nacht und mit größter Vorsicht im Lager bewegen. Der Umstand, dass zu diesem Zeitpunkt nur noch sieben menschliche Sklaven mit dem Bau befasst sind, verschärft dieses Problem noch. Die ohnehin dringliche Mission der Helden macht es allerdings auch gar nicht nötig, derartige Erkundungen durchzuführen. Hilfe können sie ohnehin nur von den wenigen Menschen erwarten, und in der gegenwärtigen Situation gibt es auch wenig, was sie für diese tun könnten. Bevor die Helden jedoch wieder zurückkehren verstirbt der Herrscher an einem gewöhnlichen Schnupfen und das Begräbnis wird eingeleitet.
Eigentlich scheint das Abenteuer damit für die Helden vorbei zu sein. Bei dem Versuch, sich in die Pyramide zu schleichen, werden sie ebenso entdeckt wie in jeder anderen Variante. Statt jedoch einen interessanten Tod zu sterben, werden die Helden am Eingang der Pyramide festgehalten. Anders als die echsischen Wächter erwartet der Autor, dass es den Helden von dort gelingt, in die Grabkammer vorzudringen und zurück in die Gegenwart zu reisen.
Spätestens hier wird auch das Dilemma klar, in welchem sich Gerd Tillmann mit seinem Abenteuer befindet. Es wird der Versuch unternommen, dem Meister und vor allem den Helden alle Freiheiten zu lassen. Gerade das heikle Element einer Zeitreise, das hier im Mittelpunkt steht, macht es jedoch unvermeidlich, dass die Helden zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in der Pyramide sind. Es gelingt dem Autor hier nicht, dies zufriedenstellend in die Wege zu leiten. Zu deutlich ist der Unterschied zwischen der vermeintlichen Handlungsfreiheit auf der einen und den notwendigen Eckpunkten auf der anderen Seite. Zurück in der Gegenwart wird dies dann endgültig auf die Spitze getrieben: Der Elf verschwindet ohne weitere Erklärung, und kurz darauf sehen sich die Helden von einer ganzen Armee umzingelt. Haben die Helden jetzt nicht die alles entscheidende Lösung parat, ist ihr Ende besiegelt.
Es kann an dieser Stelle nicht zu viel über die Zeitreise und ihre Auflösung gesagt werden, ohne dabei zu viel zu verraten. So viel sei jedoch gesagt: Die grundsätzliche Idee, dass die Bemühungen der Helden erst das Problem verursachen, halte ich für sehr gelungen, bringt sie doch die paradoxen Probleme einer Zeitreise schön auf den Punkt. Die Umsetzung und viele Details sind jedoch stark an dramaturgische Erfordernisse angepasst und bisweilen mehr als fragwürdig. Gerade solche Details sind es, die schnell zu Aufregung am Spieltisch führen, wenn es einmal nicht so läuft, wie erwartet.
Unzweifelhaft beeindruckend ist der Einfallsreichtum des Autors. Angefangen mit dem unscheinbaren Elfen, der die Helden in die Vergangenheit schickt, bis zu verschiedenen Details der echsischen Kultur. Geraten die Helden vor der Zeit in Gefangenschaft, müssen sie beispielsweise in einem Göttinnenurteil gegen den Leibwächter des Generals bestehen: ein blinder Mutant, der die Helden dafür umso besser "riechen" kann.
Leider lassen sich viele dieser Ideen nur sehr bedingt weiter verwenden. Das Bild der echsischen Hochkultur hat sich im Laufe der Zeit doch gewandelt, und Tillmans Aussagen über die Kultur der Geschuppte müssen daher als höchst unzuverlässig gelten. Auch über Athavar Friedenslied (der seinen Vornamen wohl erst später erhielt) gibt es in diesem Abenteuer wenig zu erfahren. Tillmanns Konzept eines personifizierten Todes, welches doch sehr an Pratchetts Scheibenwelt-TOD erinnert, ist ebenfalls nicht mehr haltbar. Ohnehin kann der Anhang zum Tod als Meisterperson nur ein Hinweis darauf sein, wie schnell man in diesem Abenteuer sein Leben lassen kann. Die Stadt des toten Herrschers kann man nur siegreich oder gar nicht verlassen.
Fazit:
Stadt des toten Herrschers kann eindeutig nicht halten, was der vollmundige Titel und das furiose Cover versprechen. Vielleicht hätte man viele der Ideen aus dem Band verwenden können, doch in den meisten Fällen entwickelte sich Aventurien in eine andere Richtung, als der Autor sie hier gegangen ist. Selbst der Lichtelf Athavar Friedenslied begegnet dem Leser erst in Hadmar von Wiesers Prolog zu Der Lichtvogel wieder. Das Traurige dabei ist, dass das Potential der Idee nicht genutzt wurde. Statt umfangreicher Beschreibungen hätte man vielleicht die Handlung in der Vergangenheit weiter ausbauen, und dem ganzen so mehr Tiefe verleihen können.
Wer ein Zeitreiseabenteuer ins Reich der Echsenherrscher plant, findet hier immer noch wertvolle Anregungen. Für sich genommen bleibt das Abenteuer jedoch hinter seinen Möglichkeiten zurück und lohnt eine Anschaffung wohl nicht.
Typisch für Gerd Tillmann sind die Schwächen in der Plotführung bzw. fehlenden Hilfestellungen für den Meister, sowie ein paar kleine aber wichtige Fehler, die er in seinem großen Entwurf wieder mal vergessen hat. Damit erreicht das Abenteuer in der Wertung für Alveran 4 Punkte.