Rezension von Marc Völker (2009):
Im Jahr 2000 erschien mit Myranor - Das Güldenland (Box) die erste DSA-Spielhilfe für den legendären Westkontinent. Neben der Namensgebung waren das High-Fantasy-Genre und das Regelwerk die Hauptkritikpunkte der Community. Wo das Genre in dieser Form durchaus beabsichtigt war, muss die Entscheidung, mit der Box das zu diesem Zeitpunkt extrem unausgegorene neue DSA-Regelwerk zu testen, als klarer Fehler angesehen werden. Im Jahr darauf erschien mit Myranische Mysterien der Versuch, das myranische Magiesystem spielbar zu machen, der leider ebenso kläglich scheiterte. Das Magieregelwerk war keinen Deut besser als die weltlichen Regeln. Letztendlich dürfte es primär den Schwächen im Regelwerk und der Inkompatibilität mit Aventurien zu verdanken sein, dass sich Myranor bisher nicht großflächig am Rollenspielmarkt etablieren konnte.
In den folgenden Jahren kamen immer wieder Gerüchte um eine Neuauflage mit den DSA4-Regeln auf, bis Anfang 2006 endlich das Myranor-Hardcover erschien. Leider enttäuschte das Buch jedoch erneut. Nicht nur, dass hier wieder einmal eine Vorabversion neuer Regeln (die im Nachhinein dann doch wieder anders aussehen sollten) geliefert wurde, es fehlte auch das im Vorfeld immer wieder versprochene Magieregelwerk. Das Schicksal von Myranor schien endgültig besiegelt als FanPro ankündigte, keine weiteren Myranorpublikationen in Paperformat veröffentlichen zu wollen. Einzig und allein dem "Weißer Ritter" Ulisses-Spiele ist es zu verdanken, dass Myranor doch überlebt hat. Nach Übernahme der Lizenz machte sich der neue Verlag daran, sukzessiv die Fehler, die FanPro in den letzten sieben Jahren gemacht hatte, auszubügeln. Nacheinender erscheinen nun all die Regelbücher und Spielhilfen, die zum langfristigen Überleben Myranors erforderlich sind. In dieser Serie ist nun auch quasi mit neun Jahren Verspätung das Regelbuch Myranische Magie erschienen, das erstmals spielbare Magieregeln für Myranor enthalten soll:
Nach einem kurzen Vorwort erhält der Leser eine Kurzeinführung zur myranischen Magie, die das myranische Zauberwesen kurz umreißt (Details folgen in späteren Kapiteln). Kosmologie und Weltbilder geht kurz auf Weltanschauungen der einzelnen Kulturen und magischen Traditionen ein. Hierbei fällt auf, dass das optimatische Weltbild gewisse magische Erscheinungen (insbesondere im Bereich der Limbusmagie) deutlich nachvollziehbarer erklärt als Rohals Sphärenmodell. Die Sphären und der Limbus stellt kurz die Vorstellung myranischer Zauberer zu den einzelnen Sphären dar und setzt damit die Beschreibungen aus dem vorherigen Kapitel nahtlos vor.
Die Quellen beleuchtet den Ursprung myranischer Zauberkraft. Nach myranischen Vorstellungen sind sogenannte Quellen aus verschiedenen Sphären (elementare, stellare, dämonische, Totengeister Natur, etc.) Ursprung der Zauberkraft. In diesem Kapitel werden die Quellen detailliert erläutert
In dem Kapitel Die Kunst der Beschwörung folgt eine grundsätzliche Beschreibung der myranischen Magie, die sich trotzt gewisser Gemeinsamkeiten doch erheblich von aventurischer Zauberei unterscheidet. Grundsätzlich handelt es sich bei der (in Myranische Magie beschriebenen) Zauberei fast ausnahmslos um Beschwörungsmagie. Aus den einzelnen Quellen können Essenzen und Wesen beschworen werden. Die Essenz kann dazu genutzt werden, einen magischen Effekt hervorzurufen (Instruktion) oder ein Objekt zu verzaubern (Influxion), wobei bezüglich Letzterem von den Autoren auf eine spätere Publikation verwiesen wird. Ein Wesen kann entweder extern beschworen werden (Invokation) oder in den Körper des Zauberers einfahren (Inspiration), wobei letzteres bei Aventuriern in Bezug auf Dämonen zu Irritationen führen mag. Auch die Wesen können dem Zauberer Dienste zur Verfügung stellen. Während die Essenz- und Wesensbeschwörung für die einzelnen Quellen steigerbare Talente darstellen, handelt es sich bei den Instruktionen (Diensten) um Sonderfertigkeiten. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, mit Formeln zu zaubern. Im Gegensatz zur Spontanzauberei ist hier die Wirkung bereits festgelegt. Dadurch lassen sich Zauber aber auch erheblich einfach wirken.
Das Kapitel Ritualzauberei befasst sich mit den magischen Ritualen der einzelnen myranischen Traditionen (zum Beispiel Stabzauber, Strafmagie), die den aventurischen Ritualen teilweise sehr ähnlich sind. Schließlich war die myranische Magie Ursprung manch aventurischer Zaubertradition.
Weitere Regeln zur Magie stellen quasi die Erweiterungs- und Optionalregeln dar. Hier werden Themen behandelt, die grundsätzlich schon in Wege der Zauberei (2007) besprochen wurden (zum Beispiel Bann des Eisens, Dämonenpakte, Tödliche Träume etc.) und hier in einer für Myranor angepassten Form nochmals aufgegriffen werden.
Ab Seite 145 befasst sich das Buch dann mit der Erschaffung und Steigerung eines Zauberkundigen. Nach einem kurzen Abriss der bekannten Generierungs- und Steigerungsregeln finden sich hier die zur Generierung von myranischen Zauberkundigen erforderlichen Professionen, während die Rassen und Kulturen aus dem Myranor-Hardcover entnommen werden müssen. Hier finden sich auch diverse myranische magische Vor- und Nachteile sowie magische Sonderfertigkeiten. Gleichzeitig erhält der Leser auch Hinweise, welche Vor- und Nachteile sowie Sonderfertigkeiten aus den aventurischen Regeln verwendet werden können.
Die nächsten drei Kapitel beschäftigen sich mit den verschiedenen magischen Traditionen. Hier wird zunächst der optimatischen Tradition ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die Strukturen und Besonderheiten der einzelnen Häuser detailliert dargestellt werden. Das Kapitel Der Myranische Animismus befasst sich mit den verschiedenen Varianten animistischer Zauberei, die im weitesten Sinne mit aventurischer Schamanenmagie vergleichbar ist, ohne jedoch karmal angehaucht zu sein. Andere magische Traditionen behandelt Sonderformen myranischer Magie.
Die Imperiale Bibliothek befasst sich mit dem Bücherwesen der optimatischen Tradition und insbesondere auch mit dem Lernen aus Büchern. In Magische Wesenheiten werden magische Kreaturen vorgestellt, die auf Myranor "beheimatet" sind. Magische Phänomene behandelt astrale Besonderheiten und Erscheinungen (z.B. Kraftlinien, Astralstürme) auf Myranor.
Toter Held, was nun? enthält "Regeln", wie ein Charakter nach seinem Tod weitergespielt werden kann. Unabhängig vom leicht morbiden Hauch der Verwesung, der dem Kapitel anhaftet, ist es mit den gelieferten Regeln tatsächlich theoretisch möglich, einen Charakter nach seinem Ableben weiterhin zu spielen. Die Frage ist natürlich, ob man alles, was man tun kann, auch tun sollte.
Der Inhalt des letzten Kapitels Legenden der Magie erklärt sich anhand des Titels von selbst.
Im ersten Anhang gehen die Autoren auf das Spiel mit aventurischen Zauberkundigen in Myranor und erstmals auch mit myranischen Zauberern in Aventurien ein. Die Regeln dafür wurden meines Erachtens recht gut gelöst. Zunächst wurde der Aufschlag aus der alten Myranorbox ersatzlos gestrichen. Sieht man davon ab, dass die Charaktere auf dem anderen Kontinent Probleme haben werden, einen Lehrmeister für die eigene Repräsentation zu finden, kann die jeweilige Magie ohne Einschränkungen ausgeübt werden. Es ist jetzt sogar "relativ problemlos" möglich, die Magie des anderen Kontinentes zu erlernen. Was leider fehlt, sind Aussagen zum Status der Zauberkundigen auf dem jeweils anderen Kontinent (zum Beispiel "Kann ein aventurischer Magier in Myranor öffentlich zaubern oder muss er damit rechnen, als Anhänger des Schädelgottes gesteinigt zu werden?").
Der zweite Anhang beschäftigt sich mit der Frage, wie ein nach den bisherigen Regeln (soweit sie diesen Begriff überhaupt verdienen) erstellter Zauberer in das neue System konvertiert werden kann. Wir bereits in der ersten Myranorbox ist diese "Schnellkonvertierung" auch hier eher suboptimal. Das komplette Neuerstellen des Charakters verspricht ein weit besseres Ergebnis.
Abgeschlossen wird Myranische Magie vom obligatorischen Index.
Myranische Magie erhebt nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum myranischer Zauberei zu behandeln. Vielmehr wird hier das Magiesystem des bisher bereits beschriebenen Teils von Myranor erläutert. Beschrieben wird die optimatische Magie, diverse animistischen Traditionen und der ein oder andere Spezialfall (zum Beispiel Magiediellettanten). Es ist nicht auszuschließen, dass die Magie in einem bisher noch unbeschriebenen Teil des gigantischen Westkontinentes vollkommen anders funktionier. Ich sehe daher bei guten Verkaufszahlen durchaus Potential für eine Myranische Magie II - und es wurde auch schon ein Band zur Myranischen Technomantie angekündigt.
Für das Verständnis der Regeln sind Vorkenntnisse in myranischer Magie eher hinderlich als nützlich, da viele in früheren Publikationen (insbesondere Myranische Mysterien) aufgestellten Behauptungen keine Gültigkeit mehr haben. Grundkenntnisse in aventurischer Magie sind hingegen vorteilhaft und meines Erachtens unabdingbar. Obwohl Myranische Magie den Anspruch eines eigenen Magieregelwerkes hat, baut der Band doch auf Wege der Zauberei auf, das vorhanden sein sollte. Zudem wird auch das Myranor-Hardcover benötigt.
Layout:
Myranische Magie ist als Hardcover im typischen Myranorlayout erschienen. Rein inhaltlich hätte das Buch auch in die rote Regelbuchreihe gepasst. Der Band ist sehr übersichtlich und strukturiert gestaltet. Etwas gewöhnungsbedürftig ist lediglich die Tatsache, dass sich die Heldengenerierung hinter den Spielregeln befindet. Bei genauerer Betrachtung macht diese Präsentationsform jedoch durchaus Sinn - muss man doch für die Erstellung eines Charakters zuerst die Regeln kennen.
Die Illustrationen sind sehr hochwertig und professionell. Es fällt jedoch auf, dass die Anzahl der Illustrationen verhältnismäßig gering ist. Das Titelbild ist sehr schön gelungen. Es zeigt meines Erachtens eine "Inspiration".
Etwas problematisch war für mich der Schreibstil der Autoren. Man muss das Buch teilweise sehr gründlich lesen, um zu verstehen, was die Autoren eigentlich sagen möchten. Phasenweise ist die Ausdruckweise unnötig kompliziert. Dadurch wird auch bewirkt, dass manche Regel bis zuletzt unklar und sehr interpretatiosfähig bleibt. Ich gehe davon aus, dass diverse Foren und eine Errata hier Abhilfe schaffen werden.
Der Spagat zwischen fremder Exotik und Spielbarkeit gelingt den Autoren recht gut. Das Magiesystem wirkt fremdartig und exotische genug, um neben dem aventurischen System eine eigene Existenzberechtigung zu haben. Gleichzeitig ist die Verwandtschaft aber immer wieder offensichtlich genug, um glaubhaft zu vermitteln, dass beide Systeme auf eine Welt gehören.
Lediglich in den Begrifflichkeiten schweifen die Autoren für meinen Geschmack etwas zu sehr in Richtung Exotik ab. Immer wieder sind Begriffe (zum Beispiel die dämonschen Quellenbezeichnung) unnötig fremdartig, ohne dass dadurch ein spielerischer Mehrwert entstehen würde.
Etwas störend wirken die verhältnismäßig häufigen Verweise auf spätere Publikationen. Dadurch werden unangenehme Erinnerungen wach, wurde doch schon früher in Myranorbüchern regelmäßig auf Folgepublikationen verwiesen, die niemals erschienen sind. Dennoch habe ich Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt und die Bände über myranische Götter und Artefaktzauberei noch dieses Jahr erscheinen.
Was dem Buch leider fehlt, ist die Vorlage für ein Heldendokument. Das ist insofern ärgerlich, als dass ich nicht glaube, dass es einen Markt für Myranische Dokumente gibt.
Fazit:
Mit Myranische Magie wird nach neun Jahren endlich ein funktionierendes Magiesystem für Myranor geliefert, wobei hier sicher im Laufe der Zeit nochmals Korrekturbedarf besteht. Das System ist durch die Bausteine Quelle und Instruktion deutlich freier als das aventurische Magiesystem und bietet dadurch mehr Möglichkeiten, aber auch mehr Risiken und mehr Spielleiterentscheidungen / Willkür. Es ist wesentlich einfacher, Powergaming zu betreiben und Regellücken auszunutzen. Das System lebt im Wesentlichen von der Erfahrung der Spieler, die wohl erst lernen müssen, die Möglichkeiten im Rahmen des gesunden Menschenverstandes zu nutzen. DSA-Anfängern kann Myranische Magie daher nicht empfohlen werden. Für Myranorveteranen und -liebhaber ist das Buch hingegen Pflichtanschaffung. Meine Erwartungen hat Myranische Magie zum Großteil erfüllt und erhält daher 8 von 10 Punkten.